Wednesday 16 January 2013

Schokolade statt Kapitalismus? Brief an Frau Wagenknecht über Venezuela


(Kopie an deutsche Medien)

Sehr geehrte Frau Wagenknecht,

Ich bin ein Venezolaner und ich habe mit Interesse – eigentlich mit Staunen - Ihre Position zur politischen Lage in meinem Land verfolgt. Sie haben Ihren politischen Gegnern gesagt, dass sie sich in die Angelegenheiten meines Landes nicht einmischen sollten, zumindest nicht wie Sie, denn Sie hätten Venezuela selbst besucht und würden es gut kennen. Sie selbst haben ein Buch über mein Land geschrieben.

Sie behaupteten 2009, die Analphabetenrate in meinem Land sei von über 11% auf nahezu null reduziert worden. Das würde beinahe einem Niveau wie in Norwegen oder Island entsprechen. Haben Sie das wirklich geglaubt? Oder müssen wir einfach schweigen und das als “so eine politische Aussage” interpretieren?  Könnten Sie jetzt öffentlich zugeben, dass Sie sich gründlich geirrt haben?

Die Chávez-Regierung hat vor einigen Jahren behauptet, UNESCO selbst habe bestätigt, dass es in Venezuela praktisch keine Analphabeten mehr gäbe. Das wurde in manchen ausländischen Medien wiederholt, ohne dass es nach geprüft wurde. Auch Sie haben das wiederholt. In Wirklichkeit gab es überhaupt keine unabhängige Überprüfung dieser Daten. Die Chávez-Regierung hat lediglich ihre eigene Studie auf ihre Seite von UNESCO hoch geladen. Nur etwas später kamen andere dazu und erklärten, wie es wirklich war. Etwas dazu können Sie bei The Economist lesen. Ich hoffe, Sie verwerfen nicht alles, was in The Economist erscheint als 'vom kapitalistischen Teufel kommend'.

Vor kurzem wurden die Ergebnisse der letzten Volkszählung 2011 veröffentlicht. Die Daten zeigen, dass jetzt immer noch 5% meiner Landsleute Analphabeten sind. Schrieben Sie nicht “fast null”, besser als in Deutschland? Ende der Neunziger Jahre, als der ehemalige Putschist Chávez demokratisch gewählt wurde – anscheinend gab es auch damals Demokratie - gab es eine Analphabetenrate von 7%. Die Hälfte der Analphabeten waren damals über 60 Jahre alt.

 Quellen: 
1, INE 
2 Unesco, 
3 Eurosur

Mein Opa und meine Oma waren Analphabeten und im Gegensatz zu Chávez’ Großeltern Bauern ohne Land. In den Vierzigern des 20. Jahrhunderts kam nach der Diktatur eine Zivilregierung an die Macht* und es kam zu massiven Investitionen in die Entwicklung des Landes.

Kostenlose Bildung gehörte dazu. So konnten auch meine Eltern wie jeder andere kostenlos zur Schule gehen. Die Eltern des Caudillos Chávez waren Dozenten in einer öffentlichen Schule und der älteste seiner Brüder ging zur Uni, kostenlos.

Das kostenlose Bildungssystem wurde also nicht erst vom Militärputschist Chávez eingeführt. Die Korruption war leider groß und die Regierungen ließen zu wünschen übrig, erst mit dem Verfall der Erdölpreise weltweit kam es zu einem drastischen Rückgang der sozialen Programme in Venezuela und damit zu Unruhen und der Aufstieg der Militärs - ”Linksnationalisten, Linkssozialisten” werden sie manchmal von Vertretern der Linken genannt.

Ich spreche Ihre Sprache. Ich habe in Deutschland studiert. Ich bin ein DAAD-Alumnus. Mehrere meiner besten Freunde sind Deutsche aus verschiedenen Sozialschichten und mit unterschiedlichen politischen Meinungen. Ich versuche seit Jahren alles Mögliche über die politische, wirtschaftliche und soziale Entwicklung Ihres Landes zu lesen. Dennoch würde ich mich nicht als Deutschlandsspezialist bezeichnen. Ich stelle mir vor, ich müsste als Abgeordneter meines Landes einen Bericht über ein fremdes Land verfassen, um die Politik meines Landes und meiner Region diesem Land gegenüber zu beeinflüssen.  Das wäre eine große Verantwortung.  So etwas kann und darf man nicht leichtfertig tun. Wie konnten Sie sagen, dass Sie wirklich glauben, Venezuela hätte eine niedrigere Analphabetenrate als Deutschland?

Wieso ist Chávez so populär geworden? Sie müssten ein bisschen über die Geschichte Ihres eigenen Landes nachdenken und überlegen, wie Populisten demokratisch an die Macht kommen können. In den 10 Jahren, bevor Chávez an  die Macht kam, lag der durchschnittliche Erdölpreis – weltweit - im Keller. Im Jahr 1998 betrug er nur $12 pro Faß. Der Erdölpreis ist seit Jahrzehnten das Alpha und Omega der Popularität jedes venezolanischen Präsidenten. Es war viel schwieriger, die staatlichen Ausgaben zu erfüllen als es das heute mit einem hohen Ölpreis ist.

Im Jahr 2012 lag der durschnittliche Erdölpreis selbst ein bisschen höher


Die Regierung des Militärs und Putschisten Chávez hat vom längsten Erdölboom profitieren können. Dennoch ist die Analphabetenrate nicht schneller gesunken als es im Trend war.

Die Chávez-Regierung hasst jegliche Transparenz. Sie hasst sie genau so, wie die SED das damals in der DDR tat. Deswegen ist Venezuela eines der wenigen Länder Lateinamerikas, das an der PISA-Studie nicht teilnimmt.  Nur die Regierung des Bundesstaates Miranda - von der Opposition regiert - engagiert sich in diesem Programm. Hier können Sie etwas darüber lesen. Die Ergebnisse für Miranda sind leider nicht vollständig, da die Nationalregierung sich vehement geweigert hat, Daten zum Stand der Schulen preiszugeben, die sie direkt verwaltet.

Ein anderes Mal schreibe ich Ihnen etwas über den Fonds für nachhaltige Entwicklung Venezuelas (FONDEN), russische Waffen, über Armutsanteile, kostenlose Gesundheit, über Chávez und Hass gegen Andersdenkende.







Chávez-Anhänger, von einem PSUV-Bürgermeister, Alirio Cedeño, geleitet, griffen das Haus des Gouverneurs von Miranda, Capriles, an. Capriles Großeltern sind in einem KZ in Polen umgebracht worden.
Chávez selbst hat damals keine Stellung genommen. Er machte sich aber später über Capriles, den “escuálido” (Den Ausgemergelten) und “majunche” (Unterlegener) lustig, der “die Ohren, die Nase eines Schweines hat'”. 

Die erste zivile Regierung wurde im Jahr 1948 von den Militärs gestürzt. Diktator Pérez Jiménez regierte bis 1958. Chávez hat ihn oft gelobt. Viele Menschen, darunter Kommunisten und Sozialdemokraten, wurden während der Pérez-Jiménez-Diktatur gefoltert und umgebracht. Aber ideologische Kohärenz ist nicht so eine Sache beim Chavismus...siehe Róger Cordero und Rodríguez Chacín.

3 comments:

  1. Good for you, Kepler! Unfortunately this lady, from the little that I have been able to find out about her, is not interested in facts but in the fiction convenient for her political purposes. In any case it is very good to let her know that she is using the truth in a "creative "way. Thank you! A fellow Venezuelan, Edith

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    1. Thanks, Edith.
      Well, the purpose is to make this as public as possible so that next time she is invited to a talk show, people will be less inclined to see her as a Venezuela expert.

      The problem with the German (foreign) media is that few Venezuelans are asked about their opinion, much less Venezuelans who know at least a little bit about what Germans may or may not know...and if journalists have no solid background information on the country's economic and social history... So, when Chávez's supporters abroad come to praise Potemkin villages, we have to talk about what's behind.

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  2. Well done, thank you Kepler.
    Gold

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